Staatenbildung: Von der Siedlung zum Reich

Staatenbildung: Von der Siedlung zum Reich
Staatenbildung: Von der Siedlung zum Reich
 
Als der vierte Herrscher der Dynastie von Akkad sich um 2200 v. Chr. »Naramsin, der Mächtige, der König der vier Weltufer« nannte, war das akkadische Reich des alten Babylonien auf dem Höhepunkt seiner Macht und Ausdehnung. Es umfasste nicht nur die ganze Ebene des südlichen Mesopotamien, sondern hatte mit Kriegszügen nach Nordmesopotamien und Westsyrien den Anspruch auf ein weit größeres Gebiet angemeldet. Für ein politisches Gebilde mit fest umrissenem Territorium, eingeteilt in Verwaltungsbezirke, an deren Spitze abhängige Beamte, meist Verwandte des Königs, standen, das zudem den Versuch unternahm, den Außenhandel zu monopolisieren, und über eine schnelle Eingreiftruppe verfügte, die die Macht nach innen und außen verteidigte, ist die Bezeichnung Territorialstaat angebracht. Der von Naramsins Großvater Sargon begründete Staat ist der erste in der Geschichte Vorderasiens, dem wir diese Bezeichnung zubilligen.
 
Vor dieser Zusammenfassung in einen Territorialstaat war die politische Macht auf verschiedene Stadtstaaten verteilt, die aus der Stadt und dem zu ihrer Ernährung benötigten Umland bestanden. Der Weg zu ihrer Vereinigung kann einerseits vordergründig damit beschrieben werden, dass Sargon von seiner Hauptstadt Akkad aus die übrigen Landesteile eroberte, ist aber andererseits das Ergebnis eines längeren Prozesses.
 
 Frühe Staatlichkeit in Babylonien und Altägypten
 
Hintergrund dieser Entwicklung ist, dass sich in der 2. Hälfte des 4. Jahrtausends Städte mit ihrem Umland so auf der babylonischen Ebene verteilt hatten, dass zwischen ihnen genügend Pufferflächen geblieben waren, um keine territorialen Konflikte aufkommen zu lassen. Interne Umverteilungen und eine enorme Bevölkerungsvermehrung führten jedoch unter anderem zur Ausbildung von Zentren in diesen Pufferzonen und damit zur Überlappung von Interessenbereichen. Von den vielfältigen Versuchen, die nun entstehenden Konflikte zu entschärfen, nahm schließlich einer an Intensität zu, bei dem durch Schaffung einer höheren Autorität versucht wurde, den zwischenstädtischen in einen innerstaatlichen und damit leichter beherrschbaren Konflikt zu verwandeln. Nach einer Reihe von mehr oder weniger gescheiterten Anläufen zur Bildung größerer Territorien konnte sich Sargon mithilfe zentralisierender Maßnahmen wie den oben genannten durchsetzen und einen Staat begründen, der mehrere Generationen bestehen blieb.
 
Damit war eine Entwicklung zu einem gewissen Abschluss gekommen, die bereits in den Vorstufen zur Bildung von Stadtstaaten wirksam gewesen war: die Entstehung immer höherer Ebenen politischer wie wirtschaftlicher und sozialer Organisationsformen. Das begann mit der Ausbildung von einfachen Siedlungssystemen, die aus einem Zentrum und einer Reihe von zugeordneten Siedlungen des Hinterlands bestanden. Das Zentrum zeichnete sich gegenüber den anderen Siedlungen durch höherwertige Aufgaben und Möglichkeiten aus: Es war Sitz der Verwaltung, oft auch eines Zentralheiligtums, und es hatte Bedarf an Handwerkern in Spezialberufen. Durch weitere Zentralisierung und Spezialisierung kam es zur Entstehung höherrangiger Zentren, die mehrere solcher einfacher Systeme beherrschten; in ihnen wuchsen Umfang und Komplexität von Entscheidungs- und Organisationsvorgängen, vor allem aber auch die Notwendigkeit und Kompetenz, mit Konflikten wie den oben genannten umzugehen.
 
Die bisweilen vorgetragene Erklärung der Staatsbildung als Folge einer ethnischen Überlagerung könnte sich zwar darauf berufen, dass die semitischsprachigen Akkader sich gegen die früheren sumerischen Stadtstaaten durchsetzen konnten, doch waren gerade von diesen die ersten Einigungsbestrebungen ausgegangen. Die Herausbildung der auch an vielen anderen Stellen der Erde in der Frühzeit entstandenen Stadt- und Territorialstaaten ist in kaum einer anderen Region so gut zu verfolgen wie im Bereich des alten Vorderen Orients, für den die Erforschung gerade dieser frühen Perioden besonders intensiv vorangetrieben wurde. Für andere Regionen reicht es oft nur zur Aussage, dass dort die Entwicklung anders verlaufen ist, ohne die Schritte im Einzelnen benennen zu können.
 
Im alten Ägypten ist dieser Prozess schon deswegen anders verlaufen, weil dort die allmähliche Herausbildung höherer Organisationsebenen in Siedlungssystemen nicht gegeben war. Im Gegensatz zu Babylonien haben Städte als dominierende Form in Ägypten offenbar nie eine Rolle gespielt. Die Vereinigung von Ober- und Unterägypten gegen Ende des 4. Jahrtausends zu dem einheitlichen Staatsgebiet, das Ägypten während seiner gesamten Geschichte blieb, hat zudem vor der Zeit stattgefunden, von der an wir schriftliche Nachrichten erwarten können. Wegen der besonderen Gegebenheiten der ägyptischen Landschaft, die nur an wenigen Stellen archäologische Aufschlüsse außerhalb der Monumentalanlagen erlaubt, ist es nicht möglich, diesen Mangel mit archäologischen Forschungsergebnissen auszugleichen. So bleibt nur die magere Feststellung, dass die politische Führungsrolle oberägyptischer Stämme beim Einigungswerk auch später noch erkennbar blieb. Inwieweit von einer Überlagerung der unterägyptischen bäuerlichen Bevölkerung gesprochen werden kann, ist fraglich.
 
 Indien, China, Südamerika: Hier Städte, dort ein Riesenreich
 
Noch unklarer sind die Vorgänge um die Bildung der Städte der Harappakultur des Industales in der Mitte des 3. Jahrtausends. Orte wie Mohenjo Daro mit seinen etwa 40 000 Einwohnern oder Harappa treten fast ohne Ankündigung in unser Blickfeld und verschwinden nach 800 Jahren wieder ohne größere Nachwirkungen. Auch diese Blütezeit bleibt für uns verschwommener als vergleichbare städtische Kulturen, weil die ohnehin wenig umfangreichen schriftlichen Zeugnisse noch nicht lesbar sind. Auf der anderen Seite weist die ungeheuer weite Verbreitung einheitlicher archäologischer Zeugnisse über das Indusgebiet bis nach Nordindien und nach Afghanistan auf ein dichtes Kommunikationsgeflecht hin. Von einer politischen Gemeinsamkeit im Sinne eines staatlichen Gebildes kann jedoch keine Rede sein.
 
Chinesische Quellen sprechen zwar bereits für das 3. Jahrtausend von staatsähnlichen Gebilden, doch gibt es tatsächliche Hinweise auf große Städte erst für das 16. Jahrhundert v. Chr., ohne Möglichkeit, sie in einen größeren, möglicherweise territorialstaatlichen Kontext stellen zu können. Die Entstehung solcher Städte, von denen zum Beispiel Ao eine 7 km lange, 30 m breite Stadtmauer besaß, ist ebenso wenig zu verfolgen wie die von größeren politischen Gebilden. Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als spätere Äußerungen zu akzeptieren, wonach immer die militärische Überlegenheit einer Gruppe zur Bildung eines Staates führte.
 
Vorgänge wie die zuletzt genannten sind dagegen aus Südamerika nicht nur aus der schriftlichen Tradition bekannt, sondern auch durch archäologische Forschungen untermauert. Bevor die Inka im 15. Jahrhundert n. Chr. das riesige Territorium eroberten, das die heutigen Staaten Ecuador, Peru und Chile umfasst, war dieses Gebiet in zahllose kleine Herrschaften aufgeteilt, unter denen die der Inka nur eine von vielen war. Offenbar gingen die Inka aus einem nachbarschaftlichen Abwehrkampf nicht nur siegreich, sondern so gestärkt hervor, dass drei aufeinander folgende starke Herrscherpersönlichkeiten in weniger als 100 Jahren das Inkareich begründen konnten. Ob freilich die organisatorischen Grundlagen ausgereicht hätten, dieses Gebiet von 4 000 km Länge auf Dauer zusammenzuhalten, ist nicht zu entscheiden, da es bereits 1532 von den Spaniern erobert wurde.
 
Durch die zunehmende Erforschung der älteren Perioden der Menschheit werden die früheren Versuche, Staatsbildungen immer als Folge von Eroberungen oder Überlagerungen einer ethnischen Gruppe durch eine andere zu erklären, von differenzierteren Betrachtungsweisen abgelöst. Es bleibt die Erkenntnis, dass der Bildung eines Staates immer der Aufbau einer politischen Machtstruktur und einer entsprechenden Organisationsform vorausgehen musste.
 
Prof. Dr. Hans J. Nissen

Universal-Lexikon. 2012.

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